Eigenwillig-Elegant. Unangepasst-Großartig. Stilbewusst-Selbstsicher. Verführerisch–Anders.
Wenn auch nur ein knappes Dutzend von gefühlten tausend Möglichkeiten, Alice Francis’ Stimme zu beschreiben – ihrem eigentlichen Wesen kommen sie doch recht nah. Wie aber eine Künstlerin beschreiben, deren Vielfältig- und Vielseitigkeit ihresgleichen sucht – und natürlich nicht findet?
Was Alice Francis nicht nur wohltuend sondern auch grundlegend von den meisten ihrer KollegInnen unterscheidet, ist ihr unerschrockener Pioniergeist; ihr Wille, ausgetretene Pfade links liegen zu lassen und wie selbstverständlich unbekanntes Terrain zu betreten – ohne vorher Bodenproben genommen zu haben. Dass sie ausgerechnet dabei auf Phänomene aus einer historischen Zeit stieß, ist mehr als nur ein Wink des Schicksals.
Wenn es im letzten Jahrhundert eine Ära gab, in der gesellschaftlicher Auf- und Umbruch nicht nur gut klangen, sondern auch noch fantastisch aussahen, dann waren das die röhrenden 20er Jahre. Die Zeit, in der vor allem die Frauen zu einem neuem Selbstbewusstsein fanden und den Platz in der Gesellschaft einforderten, der ihnen bis dato verwehrt geblieben war. Kein Wunder, dass Alice Francis sich in ihnen wiederfindet und unter anderem Josephine Baker als künstlerisches Vorbild sieht. Der stilsichere Nonkonformismus und das charmanten Aufbegehren gegen Rollen-Klischees, die ihre Schwestern im Geiste - von Anais Nin bis Dorothy Parker - vorgelebt haben, inspirieren Alice Francis deshalb auch immer wieder auf’s Neue.
Genau dieser Geist ist es, dem Alice Francis und ihr Partner in Music-Crime Goldielocks auf der Spur sind. Allerdings geht es ihnen um mehr, als das Ausschlachten vermeintlich exotischer oder anderweitig ausgefallener Klangquellen, die in einem Gewitter von State-Of-The-Art Produzenten-Kniffen bis zur Unkenntlichkeit zerstückelt werden. Hier wird nicht einfach nur zusammengedengelt, was nicht zusammengehört - Cab Calloway-Crossover und Bix Beiderbecke-Big-Beat machen andere. Goldielocks und Alice Francis arbeiten subtiler, gründlicher, authentischer. Fusion statt Collage. Die beiden lassen den Geist von früher mit dem Finish von heute verschmelzen – und sichern sich auf diese Weise The Best Of Both Worlds.
Aber ein Selbstgänger ist was anderes – und Kostümverleihe kommen Frau Francis nicht in die Tüte: Um das Flair dieser Tage so ins Heute zu holen, das es eben nicht aussieht wie ein kurzer Ausflug in die Vergangenheit, bei dem man das ein oder andere Erinnerungsstück hat mitgehen lassen, geben Alice Francis und Goldielocks alles – und schrecken auch vor DIY-Methoden nicht zurück: Für den Vintage-Look schneidert sie sich die Kleider, Blusen und sonstigen Accessoires gerne selbst – die Haare erhalten eine Spezial-Behandlung, aber das ist eigentlich ein Geheimnis (nur soviel: die verantwortliche Dame ist schon sehr sehr alt). Für den Vintage-Sound nutzt Goldielocks nicht nur jedes überhaupt verfügbare Plug-in; damit es klingt wie es klingen soll, werden kurzerhand Kompressoren selbst gebaut, Resonanz-Elementen für die Gesangskabine designt oder ein Grammophon derart gepimpt, dass man damit scratchen kann.
Im Ergebnis klingt das auf ihrem Debüt-Album „St.James Ballroom“, wie nicht von dieser Welt. Chorsätze zwischen traditionellen Accapella-Arrangements und Doo-Wop schmiegen sich an deepe Bässe aus dem Hier und Heut – wie beim Titelstück „St. James Ballroom“. Auf „Gangsterlove“ streiten sich Pizzicato-Geige und Zupf-Banjo bis Swing-Lady Alice Francis plötzlich zu rappen anfängt – und zwar gar nicht so lady-like, wie sie sich auf dem Cover präsentiert. Hätte es Salt’n’Pepa, TLC oder En Vogue schon zu Zeiten der Prohibition gegeben – wie Alice Francis auf „Get A Wiggle“ hätten sie wohl auch gern geklungen.
Dass Fräulein Francis aber auch ganz anders kann, zeigen nicht zuletzt die ruhigeren Nummern auf dem Album – wie zum Beispiel „Sandman“ und „Cakes & Applepies“. Balladesk ist daran allerdings wenig. Was bei „Sandman“ anfänglich noch in Richtung Schlaflied weist, entpuppt sich nur wenig später als wortspielerische Verruchtheit aus der Cole-Porter-Schule. Francis singt mit ebenso viel Luft in der Stimme wie die Monroe, ganz nah am Mikrofon. Und wenn am Ende Waldemar Parras Lippenposaune aufspielt, will man gar nicht mehr so genau wissen, wie der Sandmann Fräulein Francis in den Schlaf gesäuselt hat.
Zusammengehalten werden all diese höchst unterschiedlichen Einflüsse, die von Pop, über HipHop bis Elektro und Latino alles inkorporieren, so lange es mit der 20er Ästhetik vereinbar ist, von Goldielocks klarem Sounddesign und der unverwechselbar vielseitigen Stimme Alice Francis’. Kopf oder Bruststimme, Swingen oder Rappen, Scatten oder Röhren – Miss Flapperty schüttelt’s aus dem linken Stimmband. Dass sie en passant Irving Berlins „Puttin On The Ritz“ zitiert und ihren Gesang auch sonst geschickt mit Details aller Art dekoriert, zeigt nur, wie wohlinformiert sie aus dem reichhaltigen Repertoire von damals schöpft.
Wie sehr Alice Francis mit ihrer Version des Neo-Charleston den Nerv der Zeit trifft, kann keiner so gut beurteilen wie Parov Stelar. Als DJ und Produzent ist er der mit Abstand einflussreichste Protagonist der Neo-Swing Bewegung, die sich weltweit anschickt, zur nächsten großen Jugendbewegung zu werden. Die Tatsache, dass er, der diese Szene wie kein anderer verkörpert und repräsentiert, von Alice nicht einfach nur begeistert war, sondern auch noch eine Remix-Zusammenarbeit für die erste Single „Shoot Him Down!“ anbot, sagt alles.
Aber nicht nur zeitliche Grenzen spielten bei der Entstehung des Albums keine Rolle, denn die Produktion stand unter einem besonderen, um nicht zu sagen weltumspannenden, Stern: Co-Produzent Johann Niegl steuerte seine Ideen aus Shanghai bei und Mit-Autor Waldemar Parra kommunizierte aus Chile und New York. So kam zur Zeitlosigkeit auch noch die räumliche Unabhängigkeit – von den Reisen durch Zeit und Raum erzählt jeder einzelne Song. Für jedermann nachzuhören sein wird das spätestens am 7. September 2012 – dann wird das Album veröffentlicht.
Dass Alice Francis und Goldielocks auch live zu außergewöhnlichen Mitteln greifen, liegt auf der Hand. Während Frontfrau Francis sich auf Gesang und Show konzentriert und Sir Chulmin-Yoo mit einem Harmonizer einen Background-Chor simuliert, agiert Goldielocks - ausgerüstet mit Ableton Live und einem Novation Launchpad - als One Man Bigband. Diejenigen, die das Glück hatten Miss Flapperty und Co schon einmal live in concert zu erleben, sind gar nicht mal so wenige: mindestens 15.000, um genau zu sein, waren es, die sich auf dem Berliner Swing Open Air am Flughafen Tempelhof zum Swingalong getroffen hatten. Und Alice Francis rockte, nein, swingte jede einzelne Seele.
Alice Francis haucht den 20er Jahren neues Leben ein und lässt sie in der Jetzt-Zeit wieder auferstehen. Sie fasziniert andere mit ihrer Faszination für eine Dekade voll ausschweifendem Leben. Dass Raue und Roughe paart sich in ihrer Musik auf wundersame Weise mit dem Schicken und Schönen. Der Klang ist körperlich, greifbar, ein haptisches Erlebnis. Dass sie als Kind ihrer Zeit, Tagebuch schreibt, leidenschaftlich antike Möbel sammelt und insbesondere für historische Radios einen Spleen entwickelt hat, ist dabei nur konsequent: je tiefer und umfassender Alice Francis in die Kultur und das Leben von damals eintaucht, desto mehr geht sie in ihnen auf, verschmilzt mit ihnen, wird zu einem Mittler zwischen zwei Welten und nimmt das Feeling der aufregenden roaring Twenties mit ins 21. Jahrhundert. Auf dass „St. James Ballroom“ nur der erste von vielen weiteren Reiseberichten der Alice Francis sein möge.
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